STORYS

SAILING JOURNAL

Sailing Journal   l   Job: Artikel   l   Medium: Print

Irgendwo im Nirgendwo

„Was ist ein Winterlager?“, fragte mich der Sohn meines Nachbarn. „Ein Winterlager ist ein Ort, an dem schöne Schiffe einsam sind und frieren“, lautete meine Antwort. „Oh“, sagte der Knirps traurig und verschwand.

Unterwegs mit einem jungen und wilden Fotografen, der schöne und ruhige Bilder machen soll, führt mich der Weg an einem trüben Januarmorgen in die Niederlande. In die Ortschaft Wessem, um genau zu sein. Aber da Wessem kein Mensch kennt – und es auch wirklich keinen Grund gibt, diesen Ort kennen zu lernen – steht der Name nur stellvertretend für alle anderen Orte, an denen Wasser auf Land trifft und wo auf dem Land große Hallen stehen.

Über welche Grenze man nach Holland auch kommt – eins ist so sicher wie das nächste Tulpenfeld im Frühjahr: das so genannte „Preisparadies“. „Hey, schau mal, ein Paradies“, freut sich der Holland unerfahrene Fotograf und setzt den Blinker. Bevor ich jedoch zur besserwisserischen Aufklärung über den Begriff „Paradies“ – und der Vertreibung aus dem Selbigen seit Einführung des Euro – ansetzen kann, stehen wir schon in einer dieser großen Wellblechhallen, vollgestopft mit mannshohen Regalen und bestückt mit Produkten, die anscheinend nur für Deutsche erfunden worden sind.

Ein bisschen enttäuscht, aber um eine Kiste tiefgefrorenes Nasi-Goreng reicher, geht unsere Reise weiter. Die Straßen führen uns durch eine schöne und flache Landschaft, lila Kühe sind hier überwiegend braun und der Fotograf schweigt vor sich hin. Bestimmt denkt er noch an die attraktive, aber viel zu junge Verkäuferin – wahrlich die einzige paradiesische Erscheinung am heutigen Morgen. Mich quälen im Moment wichtigere Dinge: Ein bohrendes Hungergefühl und die damit eingehende Frage, ob man die tiefgefrorenen Reisklumpen auch lutschen kann.

Geschafft: Mit einer jungen Holländerin im Kopf und einem Loch im Bauch stehen wir auf dem Hof von van Kuyk. Herr van Kuyk ist so etwas wie der Winterlager- King dieser Region. Hat jemand in dieserGegend ein Schiff, auf dem er den Sommer verbringt – hier steht es, während der Besitzer mit einer Wolldecke auf den Knien vor dem Fernseher sitzt, nach draußen schaut und das Gesicht verzieht. Und er weiß sein Schiff in guten Händen – den Händen, die uns gerade herzlich durchschütteln. Es sind die Hände von – ich kann es gar nicht fassen – Dennis Hopper. Natürlich ist es nicht Dennis Hopper, denn was hätte Dennis Hopper in einem Blaumann auf einem matschigen Parkplatz zu suchen? Aber auf den ersten Blick könnte es Dennis Hopper sein. Der Mann heißt in Wirklichkeit Mat van Kuyk und ist, wie sein Name es verrät, der Chef vom Ganzen.

Mat van Kuyk schiebt uns erst einmal in sein Büro, wo uns seine Frau mit einem heißen Becher Kaffee willkommen heißt. Auf zehn Quadratmeter Bürofläche findet sich Platz für alle und alles. Sohn, Schwiegertochter, Hund, Ehemann, diverse Mechaniker – ein Kommen und Gehen, wie man es sich lebhafter nicht vorstellen kann. Während sich Fotograf und Familie angeregt unterhalten, zieht es mich nach draußen, was nicht nur, aber auch mit Frau van Kuyks unglaublichem Zigarettenkonsum zu tun hat.

Den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände tief in die Taschen vergraben schlendere ich über den exklusivsten
Schrottplatz der Welt. Mat van Kuyks Ware ist penibelst unterteilt in „teuer“ und „superteuer“. Wobei „teuer“ draußen stehen muss und „superteuer“ eine Heizung und ein festes Dach über dem Kopf hat. Beim Blick ins Innere einer Halle gelange ich schnell zu der Überzeugung, dass es sich bei Mat und seinen Mannen um die Erfinder der Nutzenrechnung handeln muss: Die Boote stehen so verschachtelt, dass kaum eine Hand dazwischen passt. Respekt! Würde Herr van Kuyk mir beim Kofferpacken über die Schulter schauen – er würde sicherlich weinen.

Wer sich in der Weitläufigkeit der Hallen nicht verirrt, in keine ungesicherte Grube fällt und sich den Kopf nicht irgendwo aufschlägt, kommt irgendwann zu den Krananlagen nebst einem Hochdruckreiniger, der diesem Namen alle Ehre macht. Genau das Gegenteil zu der lahmen Baumarkt-Puste, die bei mir zu Hause rumgammelt. Ein bisschen neidisch – aber vor allen Dingen unentschlossen, was ich hier überhaupt soll – ziehe ich weiter.

Vor dem Büro treffe ich den Fotografen, der sich bemüht, den Rest von Mats Mannschaft zu einem Gruppenfoto zu überreden. Mit seiner latent calvinistischen Prägung scheint der Holländer auf den ersten Blick dem Hamburger verwandt, lässt aber schon beim zweiten Hingucken die Wesenszüge eines waschechten Rheinländers raushängen – direkt, ehrlich und offen. Vor mir stehen und sitzen – betont lässig und wissend um die Gnade der cooleren Rufnamen: Mat, Gei, Anton, Frans und Toon. Ich mag diese Vornamen. Ich kann mir gut vorstellen, dass ein kleiner, holländischer Junge in einer international zusammengewürfelten Kinderbande umgehend zum Anführer gewählt wird. Dazu kommt dieses herrliche Gekratze der holländischen Sprache mit einer Melodie, die an eine Portion heißer Kartoffeln zwischen den Zähnen erinnert. Aber diese Zuneigung zu unseren geografischen Nachbarn war nicht immer so.

Rückblende, Sommer 1974: Ein semmelblondes, hübsches Kind läuft mit verheulten Augen und rotziger Nase durch ein holländisches Dorf. Auf dem T-Shirt – oder auf dem, was davon noch übrig ist – lachen „Trip und Trap“, die offiziellen deutschen Maskottchen der Fußball-WM ’74. Bis heute kann mir niemand erklären, warum mich meine Eltern an diesem verhängnisvollen Tag in diesem brandgefährlichen Outfit vor die Tür unserer Ferienwohnung schickten. Der Rest der Geschichte ist Geschichte: Hölzenbeins „Mutter aller Schwalben“ bescherte uns einen Elfmeter, den Paul Breitner zum 1:1 versenkte, und mit seinem 2:1 katapultierte das dicke Müller schließlich den Weltmeistertitel in die Heimat.

Deutschland jubelte – und ich bekam die Kloppe. Statt der geliebten „Fritten Spezial“ verteilten ein paar halbstarke Jugendliche plötzlich nur noch schmerzhafte „Kopfnuss Spezial“ an die Kinder deutscher Feriengäste. Ich könnte wetten, da waren auch einige „Antons“ und „Toons“ dabei. Eine Ära ging zu Ende und in den nächsten Ferien fuhren wir an die Mosel.

Durchgefroren, zugequalmt, aber glücklich machen wir uns auf die Heimreise. Nahe der Grenze halten wir an einer Frittenbude und bestellen uns noch schnell ein paar Highlights der regionalen Küche. „Und – hast du ein paar schöne Fotos geschossen“, will ich wissen. „Ich denke schon“, murmelt der Fotograf zwischen einer Gabel Fritten und einem Schluck Dosenbier. „Was ist mit dir?“, fragt der Fotograf. „Hast du nicht Lust, ein paar Zeilen zu den Fotos zu schreiben?“ „Ich glaub, das wird nichts“, antworte ich. „Ein Winterlager ist eben nur ein Winterlager, da gibt‘s nicht viel zu schreiben. Aber ich denk’ mal drüber nach.“

Text Thomas Volberg, Jahrgang 1965, lebt und arbeitet als freier Konzeptioner, Werbetexter und Honorardozent für Publizistik in Düsseldorf. „Nebenbei“ jobbt er als Skipper und Segellehrer – und schreibt darüber. http://www.txt-files.de

Fotos Daniel Brunner, Jahrgang 1975, studierte Fotografie und Grafik- Design. Er hat sich in puncto Fotografie auf „alles, was schwimmen kann“ spezialisiert. Daniel Brunner wohnt in Meerbusch, in der Nähe von Düsseldorf. http://daniel-brunner-fotografie.de/wordpress/

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